Die Macht der Tiergifte in Medikamenten

Gifte sind eine unglaublich komplexe Vielfalt von Verbindungen, die sich im Laufe der Evolution über mehrere Jahrtausende entwickelt haben. Etwa 100.000 Tiere, von Eidechsen und Schlangen bis zu Seeanemonen und Quallen, produzieren Gifte. Werfen wir also einen Blick auf die Kraft von Giften als Medizin.
Die Macht der Tiergifte in Medikamenten
Luz Eduviges Thomas-Romero

Geschrieben und geprüft von der Biochemikerin Luz Eduviges Thomas-Romero.

Letzte Aktualisierung: 31. Januar 2023

Tiergifte sind wirksame Verteidigungs- oder Angriffswaffen, die es ermöglichen, Beutetiere bewegungsunfähig zu machen und/oder zu verdauen. Tatsächlich sind Tiergifte komplexe Mischungen von Molekülen mit sehr unterschiedlichen und spezifischen Funktionen.

Seit Tausenden von Jahren setzen die Menschen Schlangengifte als therapeutische Mittel ein, vor allem in der traditionellen chinesischen Medizin. Das gesamte Repertoire ist so umfangreich, dass Expert:innen bisher nur weniger als 0,01 % dieser Tiergifte identifiziert und analysiert haben. Im Folgenden werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie Tiergifte als Arzneimittel verwendet werden.

Tiergifte verhindern die Blutgerinnung bei Beutetieren

Einige Bestandteile, die Tiergifte enthalten, sind Peptide oder Substanzen mit thrombozytenaggregationshemmender Wirkung, was bedeutet, dass die Blutgerinnung verzögert wird.

So wurde in Bienengift eine komplexe Mischung verschiedener Proteine, wie bespielsweise Melittin und Apamin entdeckt. Auch in Spinnen, Skorpionen, Seegurken, Raupen und vor allem in einigen Schlangen, wie z. B. denen der Gattung Amerikanische Lanzenottern (Bothrops), gibt es analoge Elemente.

Andere gerinnungshemmende Verbindungen befinden sich auch in den Speichel- oder Exokrinsekreten einiger Vampirfledermäuse (Desmodus rotundus und Desmodus rujus). Sie sind auch Teil der Fütterungsstrategie von blutfressenden Insekten wie Rhodnius prolixus oder Darmparasiten wie Ancylostoma ceylanicum und Ascaris.

Die Macht der Tiergifte in Medikamenten

Tiergifte und ihre medizinische Anwendung

Thrombozytenaggregationshemmer helfen, die Bildung von Blutgerinnseln zu verhindern. Die folgenden Medikamente basieren auf isolierten Bestandteilen von Schlangengift. Sie sind von der U.S.-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) für die therapeutische Anwendung zugelassen:

  • Integrilin® (Eptifibatid) ist ein Peptid mit sieben Aminosäuren.
  • Aggrastat® (Tirofiban) ist ein niedermolekulares, nicht-peptidisches Derivat von Tyrosin.

Tiergifte: Weitere Beispiele für die erfolgreiche Verwendung als Arzneimittel

Derzeit befinden sich viele weitere Bestandteile von Schlangengift in vorklinischen oder klinischen Versuchen für eine Vielzahl von therapeutischen Anwendungen.

Die folgenden Beispiele zeigen, dass Tiergifte wertvolle Quellen für neue Hauptbestandteile in der Arzneimittelforschung sein können. Üblicherweise wird der Fall von blutdrucksenkenden Medikamenten angeführt:

  • Captopril® ist ein Medikament, das zur Gruppe der sogenannten Angiotensin-Converting-Enzyme-HemmerACE-Hemmer – gehört. Da dieses Enzym an der Bildung von Angiotensin beteiligt ist, wirkt der Captopril-Hemmer, indem er eine Entspannung der Blutgefäße bewirkt und den Blutdruck senkt.

Captopril wird in den USA und Großbritannien seit etwa 40 Jahren erfolgreich eingesetzt und hat die Suche nach weiteren neuen Medikamenten aus Schlangengift angestoßen. Im Folgenden sind einige weitere aufgeführt:

  • Enalapril ist ein Angiotensin-II-RezeptorblockerARB – und erweist sich bei der Behandlung vieler Herz- und Gefäßprobleme nützlich. Zum Beispiel bei koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck oder Nierenproblemen.
  • Das Schmerzmittel Ziconotid – das unter dem Namen Prialt® verkauft wird – ist ein Derivat eines konischen Schneckenpeptids und wirkt im Nervensystem als starkes Schmerzmittel.
  • Exenatide, ein Medikament gegen Diabetes, senkt den Blutzucker und erhöht die Insulinproduktion im Körper. Es basiert auf einem Bestandteil im Speichel der Gila-Krustenechse.

Tiergifte als Medikamente zur Behandlung von Multipler Sklerose

Aktuell untersuchen Wissenschaftler/innen Medikamente, die aus einer Seeanemonen-Art gewonnen werden. Diese betäubt ihre Beute, nämlich Krabben, durch den Kontakt mit ihren langen Tentakeln. Die darin enthaltenen starken Gifte blockieren die Nervenkanäle der Beute. Jetzt ist es Wissenschaftler:innen gelungen, eine “sicherere” Version als das Original zu synthetisieren.

Die neue synthetische Version des Tiergifts, das Seeanemonen verwenden, kehrt die Lähmung, die mit Multipler Sklerose einhergeht, drastisch um. Das wurde in Versuchen mit Nagetieren herausgefunden. Obwohl es noch zu früh ist, um zu sagen, wie nützlich dieses Giftderivat langfristig sein wird, werden derzeit auch Versuche am Menschen durchgeführt.

Könnte man mit Tiergift Krebs behandeln?

Auf der Suche nach Wirkstoffen, die bei der Behandlung von Krebs nützlich sein könnten, ist es sinnvoll, Schlangengift zu untersuchen. Schlangengift könnte Hunderte von chemischen Verbindungen enthalten, die für die Medizin von Interesse sind.

Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen behauptet, dass Bestandteile des Schlangengifts – in der richtigen Dosierung – Brust- und Darmtumore schnell abtöten können. Sie geben jedoch zu, dass die Versuche noch in einem frühen Stadium sind. Im Moment erhalten sie die Ergebnisse durch In-vitro-Tests, d. h. in Zellkulturen menschlichen Ursprungs.

In jüngster Zeit wurden die Tiergifte bestimmter Spinnen und seine Wirkung bei der Behandlung von Glioblastomen untersucht, mit vielversprechenden Ergebnissen. Natürlich hält die Welt der Tiergifte noch viele Überraschungen für uns bereit.

Die Macht der Tiergifte in Medikamenten
Exenatide ist ein Medikament, das aus dem Gift des Gila-Monsters entwickelt wurde.

Wie wir in diesen Abschnitten lesen konnten, stehen der medizinischen Forschung Hunderte von Wegen offen, Tiergifte in Medikamenten zu nutzen. Mit der Zeit wird es sich erweisen, wie viele Menschenleben man mit der Hilfe von Tiergiften retten kann.


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